Marleny - Staatenlos
Und es gibt mich doch!
Staatenlos – das bedeutet: ohne Zugang zu Schule,
Universität, Arbeitsplätzen. Ohne die Möglichkeit ein Bankkonto zu eröffnen,
eine Wohnung zu mieten, zu heiraten, einem Neugeborenen einen Namen zu geben.
Ein Leben in Angst vor Abschiebung, staatlicher Willkür, dem Verlust von
Menschenwürde. Ohne Bürgerrechte, vogelfrei. Ohne Ausweis, ohne den man das
Land nicht einmal verlassen kann, in dem man staatenlos ist.
Marleny ist 10 Jahre alt. Sie wurde in der dominikanischen Republik geboren
und wohnt mit ihrer Familie in einer Zuckerrohrsiedlung im Landesinneren der
Karibikinsel. Viele der Menschen, die hier leben, stammen ursprünglich aus
Haiti, das sich die gleiche Insel mit der dominikanischen Republik teilt. So
auch Marlenys Großeltern. Sie sind vor etwa 80 Jahren als Zuckerrohrarbeiter über
die Grenze gekommen und geblieben. Sie haben einen dominikanischen Ausweis
bekommen und Kinder, die in diesem Land geboren sind. Doch deren Kinder bekamen
auf einmal keine Ausweise mehr. Die Regierung sagt, sie seien keine
Dominikaner, weil ihre Großeltern nicht von hier sind, auch wenn sie selbst
hier geboren wurden. Für Marleny und andere betroffene Kinder aus der Siedlung
bedeutet das: sie leben, aber es gibt sie nicht. Offiziell tragen sie keinen
Namen, haben keine Geburtsurkunden, keine Ausweispapiere, keine Nationalität –
sie sind staatenlos. In Marlenys Siedlung darf sie deswegen auch nicht in die
Schule gehen.
So wie Marleny geht es Tausenden von
Kindern, die auf dominikanischem Boden geboren wurden, aber keine
Staatsbürgerschaft erhielten, weil ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern
aus Haiti stammen. Seit dem Jahr 2000 erhalten sie keine identitätsgebenden
Dokumente mehr. Die Regierung sagt: bis geklärt sei, wie man in Zukunft mit
diesen "ausländischen" Kindern verfahren werde. Doch inzwischen
vergehen Jahre, vergehen Kindheiten in einem Land, das diese Kinder nicht als
die seinen anerkennt.
Seit September 2013 sind auch die Eltern betroffen, werden
Staatsangehörigkeiten rückwirkend aberkannt – bis 1929, bis zu vier
Generationen zurück. Die Familien verlassen ihre Siedlung inmitten der
Zuckerrohrfelder deswegen nur, wenn es unbedingt notwendig ist, in die
Hauptstadt fahren sie auf keinen Fall, Bushaltestellen, große Plätze werden
gemieden. Denn dort kontrollieren Polizei und Militärs die Personalausweise. Verdächtig
ist, wer "haitianisch aussieht oder einen französischen
Nachnamen hat. Die Dokumente werden einbehalten, im schlimmsten Fall
verschwindet ihr ehemaliger Inhaber auf den Lastwagen, die täglich Illegale
nach Haiti abschieben. Ein Leben wie auf der Flucht in der eigenen Heimat, die nun
nicht mehr die Heimat sein soll.
Davor haben Marleny und ihre Freunde
große Angst. Auch Kinder wurden schon deportiert. Aber am meisten sorgt Marleny,
in einem Land zu leben, das für sie keine Zukunft bereithält. Deswegen planen
die Kinder der Siedlung für ihre Rechte zu demonstrieren. Sie wollen zeigen:
auch, wenn wir offiziell nicht existieren, da sind wir doch!